"... das noch nicht seiende, schwarz verhängt" - Kunst als Utopie bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno.
Der erste Teil des Vortrags geht bis Minute 1:22:30. Daran schließt sich der zweite Teil inklusive der Diskussion an.
Während des Vortrags werden verschiedene Film- und Interviewausschnitte gezeigt. Hier die Links und Zeiten im Vortrag:
Ausschnitt aus dem Interview mit Theodor W. Adorno und Ernst Bloch zu den Möglichkeiten der Utopie heute (1964)
(Link zum kompletten Interview) (9:05 - 12:24)
Eröffnungsszene aus "City Lights" (1931) von und mit Charlie Chaplin (55:57 - 59:07)
Ausschnitt aus dem Film "Die Generallinie" (1929) von Sergei Eisenstein
(Link zum kompletten Film) (59:08 - 63:40)
"Vormittagsspuk" von Hans Richter (1927) (114:28 - 123:03)
Vortragsankündigung: Kunst als Utopie, das klingt auf Anhieb nach der Bebilderung eines Schlaraffenlands, das in der wirklichen Welt unmöglich und darum in der Kunst, einer Welt bloßen Scheins, gut aufgehoben sein soll. »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst«, tönt es bei Schiller. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, so etwa lautet dieser fatale Vers in volkstümlicher Übersetzung. Doch selbst eine Kunst, von der man nichts weiter erwartete, als daß sie die Menschen deren alltäglich erfahrene Mühsal leichter ertragen lasse, indem sie ihnen von Zeit zu Zeit einen winzigen Ausblick auf ein glücklicheres, zuletzt nicht einmal mehr durch die Erwartung des Todes beschwertes Leben im erhofften Jenseits eröffnet – selbst solche Kunst schösse womöglich über das ihr gesteckte Ziel hinaus. Allein schon durch seine materielle Existenz in der bestehenden Welt, der es abgerungen wurde, deutet ein Kunstwerk darauf hin, daß das Nichtseiende, das es vorstellt, durchaus sein könnte. Seine eigene Wirklichkeit zeugt für die Möglichkeit des Möglichen. Jedes Kunstwerk, ungeachtet seiner expliziten Bedeutung, ist als solches buchstäblich utopisch. Gegenüber der Wirklichkeit, deren Elemente es verarbeitet, behauptet es sich als eine ihr entrückte Wirklichkeit eigener Ordnung, die in jener keinen Ort hat. Sogar ein erklärtermaßen realistisches Werk kann nicht umhin, die wirkliche Welt zu entstellen; zumindest insofern, als es sie an einen anderen Ort stellt, in eine von ihm selbst geschaffene, wiewohl nur scheinbare Welt, in der noch ganz andere Kräfte wirken.
Andererseits kann kein Kunstwerk im handgreiflichen Sinne utopisch sein. Dazu müßte es sich über die Erfahrung der Wirklichkeit hinwegsetzen, der sein Dasein und auf vielfach vermittelte Weise auch seine ästhetische Konstitution entspringt. Kein daseiendes Kunstwerk, sagt Adorno, sei des Nichtseienden positiv mächtig. Das unterscheidet es von den Symbolen der Religionen, die solche Transzendenz beanspruchen. Der Kunst aber sei »ihre Utopie, das noch nicht Seiende, schwarz verhängt«, darum bleibe sie »durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes verdrängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der ungewiß ist, ob sie wird.«
Was Kunst als Utopie zu bedeuten habe – und zwar nach dem Scheitern der künstlerischen Avantgarde-Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts und zumal nach den weltgeschichtlichen Katastrophen, die jedes Versprechen künftigen Glücks dementieren –, diese Frage soll hier zunächst in einem Rückblick auf die Moderne erörtert werden: namentlich anhand der ästhetischen Theorien Benjamins und Adornos, deren enge gedankliche Verwandtschaft ihre im einzelnen unterschiedlichen Auffassungen nur um so deutlicher hervortreten lassen. Inwieweit diese dem eigenen Anspruch nach historisch-materialistischen und gleichwohl auch utopischen Konzeptionen nicht nur über jene abgelebte Epoche, sondern womöglich noch über das hinausragen, was aus Resignation oder Verlegenheit Postmoderne genannt wird, bleibt zu sehen.